"Das Ehrenamt ist der Kitt unserer Gesellschaft."
Kurzportrait
Judith Pirscher ist seit Dezember 2019 Regierungspräsidentin des Regierungsbezirks Detmold. Als Vermittlungsinstanz zwischen Landesregierung und Region hat die Behörde verschiedenste Aufgaben und Kompetenzen: vom Kommunalwesen über das Bauwesen bis zum Naturschutz.
Die 53-Jährige studierte Jura in Bayreuth, absolvierte ihr Referendariat in Nordrhein-Westfalen und arbeitete nach dem zweiten Staatsexamen als Rechtsanwältin für Öffentliches Recht. Von 1998 an war sie für die Umweltpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion zunächst in Bonn, danach in Berlin tätig. Im Jahr 2000 wechselte Judith Pirscher als stellvertretende Geschäftsführerin und Justiziarin zur FDP-Landtagsfraktion nach Düsseldorf. Dort verantwortete sie die Bereiche der Innen- und Kommunalpolitik sowie den Bereich der Verfassungs- und Parlamentsfragen.
Im Jahr 2005 übernahm sie als Leiterin des Ministerbüros die politische Koordination im NRW-Innenministerium. Von dort wechselte sie zum Verfassungsschutz im Innenministerium bevor sie im Oktober 2010 Ständige Vertreterin des Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit des Landes Nordrhein-Westfalen wurde. Von April 2011 an war Judith Pirscher Landesrätin für den Bau- und Liegenschaftsbetrieb und Geschäftsführerin der Kommunalen Versorgungskassen Westfalen-Lippe beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Sie war bis 2019 im Verwaltungsvorstand des Instituts für vergleichende Städteforschung an der Universität Münster.
Judith Pirscher im Gespräch mit Vera Wiehe über ihre Rolle als Regierungspräsidentin, die Entwicklungsmöglichkeiten der Region und die Karrierechancen von Frauen
Was sind die wichtigsten Stationen Ihrer beruflichen Biografie?
Ich hatte großes Glück, dass ich in allen wichtigen Verwaltungsbereichen Erfahrungen sammeln konnte. Ich habe mit meiner Tätigkeit im Bundestag und im Landtag die Arbeit der ersten Gewalt, der Legislativen, kennengelernt. Die Exekutive, die zweite Gewalt, hat sich mir in der Regierungsarbeit erschlossen, als ich als Leiterin des Ministerbüros für die politische Koordination im NRW-Innenministerium in Düsseldorf zuständig war.
Zu guter Letzt kam für mich als Landesrätin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe die kommunale Familie hinzu. Das war eine spannende Ergänzung. Ich habe das sehr gerne getan und wurde nach acht Jahren wiedergewählt. Als ich dann gefragt wurde, ob ich als Regierungspräsidentin nach OWL kommen möchte, fand ich das großartig. Das wird man nur einmal im Leben gefragt. Wer kann zu so einer spannenden Aufgabe schon nein sagen?
Was ist für sie an OWL das Besondere?
Besonders gefällt mir das Selbstverständnis der Region. Die Region tritt zugleich selbstbewusst und zurückhaltend auf. Wir leben in einer flächenmäßig großen Region mit zwei Millionen Einwohnern – wie wertschätzend hier die Menschen miteinander umgehen, das gefällt mir sehr gut. Ich bin sehr herzlich aufgenommen worden. Und hier wird – anders als Gerüchte glauben machen wollen – viel gelacht.
Haben sie einen Entwicklungsplan für die Region?
Ich glaube, das Wichtigste ist zu erkennen, dass man sich nicht auf dem bisher Erreichten ausruhen darf, auch wenn – wie hier in der Region – bereits viel erreicht wurde. Wir müssen uns bei den großen Themen weiter auf den Weg machen. Die Region steht beispielsweise für Industrie 4.0 und Digitalisierung. Allerdings erfordern neue digitale Anwendungen immer höhere Bandbreiten. Dafür ist die digitale Infrastruktur die Grundvoraussetzung. Hier haben der Breitbandausbau bis zum Jahr 2025 und der Ausbau des 5G-Netzes deutliche Priorität. Ein weiteres Thema ist die Entwicklung zur Smart City. Das ist nicht nur für die Großstadt bedeutsam, sondern ein Thema für alle Regionen. Hier werden im Rahmen der REGIONALE 2022 und der Digitalen Modellregion wegweisende Projekte entwickelt. Mir ist wichtig, dass wir die notwendigen Voraussetzungen hierfür schaffen und diese Ideen dann erfolgreich umsetzen.
Ebenfalls sehr wichtig ist, dass wir in OWL auch berücksichtigen, was in anderen Räumen geschieht. Die Entwicklungen sind rasant. Ein Blick in die Rhein-Ruhr-Region zeigt: Dort steht eine fossile Region auf, macht sich auf den Weg und will erstens digital und zweites nachhaltig werden. Dort werden große Smart City- und KI-Projekte mit Finanzmitteln aus dem Kohleausstieg entwickelt. Das wird dort zu einem starken Zusammenhörigkeitsgefühl und einer guten Vernetzung führen. Die Initiative für die Bewerbung der Rhein-Ruhr-Region um die olympischen Spiele 2032 wird diesen Prozess noch verstärken. Diese Entwicklungen sind auch für unsere Hochschulen und unsere hervorragend aufgestellten Unternehmen eine große Chance und laden zur Vernetzung ein.
Wie beschreiben sie ihre Rolle als Regierungspräsidentin für die Region?
Ich sehe mich als Botschafterin der Region bei der Landesregierung in Düsseldorf und umgekehrt. Die Bezirksregierung ist eine Mittelbehörde der Landesverwaltung und vermittelt zwischen den unterschiedlichen Interessen der Bürgerinnen und Bürger, Betriebe und Unternehmen, der Gemeinden, Städte und Kreise auf der einen und der Landesregierung auf der anderen Seite. Sie nimmt dabei Aufgaben in fast allen Bereichen des täglichen Lebens wahr. Regionale Entwicklungsplanung, Wirtschaftsförderung, Umwelt- und Naturschutz, öffentlicher Gesundheitsdienst und Schulaufsicht – das sind nur einige Themen unseres Aufgabenspektrums.
Vier von fünf Bezirksregierungen in NRW werden von Frauen geleitet. Ist das ein Zufall?
Es ist eine Frage der individuellen Qualifikation, davon bin ich überzeugt. Ich sehe keinen Unterschied darin, ob ein Mann oder eine Frau dieses Amt ausführt. Wahrscheinlich aber hätte es das vor 40 oder 50 Jahren so nicht gegeben. Damit ist es Ausdruck dafür, wie sich die Gesellschaft in Richtung Chancengleichheit von Frauen und Männern gewandelt hat.
Glauben Sie, dass Chancen von Männern und Frauen mittlerweile paritätisch verteilt sind?
Ich bin mir sicher, dass Frauen mehr erreichen können, als sie von sich häufig glauben. Ich bin überzeugt, dass Frauen von der Ausbildung her die gleiche Grundausrüstung erhalten und damit die gleichen Voraussetzungen für Laufbahnen und Karrieren haben. Eine entscheidende Fragestellung für die Chancen von Männern und Frauen ist allerdings, wie miteinander ausgehandelt wird, wer welche familiäre Rolle erfüllt. Ich glaube, dass vieles in Bezug auf Karrierechancen zuhause entschieden wird. Darüber hinaus sind natürlich auch strukturelle Voraussetzungen wichtig. Für Karrieren von Männern und Frauen in einer Familie ist es zum Beispiel entscheidend, wie viele Kindergartenplätze es gibt – also die Antwort auf die Frage, wie Beruf und Familie für Mann und Frau insgesamt organisiert werden können.
Brauchen wir eine Frauenquote als Gleichstellungsinstrument?
Wir müssen gesellschaftliche Rahmenbedingungen schaffen, dass Frauen ihren Weg machen können. Ich bin jedoch kein Fan der Quote. Die Quote macht aus jeder Frau, die aufsteigt, eine Quotenfrau. Ich glaube, dass wir auch ohne Quote zu noch besseren Ergebnissen kommen werden.
Was sind ihre Erfolgseigenschaften?
Mich zeichnet aus, dass ich zäh und geduldig bin und gerne lache.
Haben sie ein Lebensmotto?
„Heiter weiter“ – so könnte das Motto lauten, das mich persönlich durch den Tag bringt. Mein Lebensmotto ist, aus jedem Tag das Beste zu machen.
Welche Bedeutung haben Ehrenämter und Netzwerke für Sie?
Eine sehr große. Das Ehrenamt ist für mich der Kitt unserer Gesellschaft. Ohne das Ehrenamt würden die meisten Dinge nicht funktionieren. Mich fasziniert am Ehrenamt, dass man sich mit vielen Menschen trifft und einen Wirkungskreis hat, in dem man unmittelbar etwas verändern und Einfluss nehmen kann.
Ich halte grundsätzlich Netzwerke für sehr wichtig. Als Teil eines Netzwerkes bleibt man im Diskurs und Austausch, erhält Informationen, bringt sich ein und verfolgt so gemeinsam ein Ziel. Man hat viel mehr Wirkungskraft als alleine. Ich pflege einen weiten Netzwerkbegriff. Ich selbst bin im Kuratorium der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der Wolfgang-Döring-Stiftung, engagiere mich in einer Partei und deren Gremien sowie Fachgremien. Ich bin Rotarierin und Soroptimistin und Senatorin in der Prinzengarde Blau-Weiß Düsseldorf und damit eine echte Netzwerkerin.
Haben sie Tipps für Frauen, die am Anfang der Karriere stehen?
Frauen sollten sich Zeit für das Netzwerken nehmen, auch wenn das aufgrund der vielen Aufgaben in Beruf und Familie schwierig ist. Denn Netzwerke sind wirklich wichtig.
Ich beobachte, dass manch eine Frau sich zu lange fragt, ob sie sich eine Aufgabe überhaupt zutraut. Oft neigen Frauen dazu, sich nur dann zu bewerben, wenn sie sicher sind, dass sie den entsprechenden Job auch erhalten. Männer scheinen mit Konkurrenzsituationen besser zurecht zu kommen. Sie gehen in den Wettbewerb und nehmen es nicht persönlich, wenn ein anderer oder eine andere gewinnt. Eines meiner Herzensanliegen ist dieser Tipp: Frauen, stellt Euch dem Wettbewerb und werdet mutiger.
Welche Instrumente der Karriereförderung für Frauen gibt es intern in der Bezirksregierung?
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Regelungen für Rückkehrerinnen und Rückkehrer, flexible Arbeitszeiten – das alles ist im öffentlichen Dienst in vorbildlicher Weise geregelt. Der Frauenanteil bei den knapp 1.100 Beschäftigten bei uns in der Bezirksregierung Detmold liegt bei 51,6 Prozent. Im mittleren Führungsbereich haben wir einen Frauenanteil von 40 Prozent, auf der obersten Führungsebene 100 Prozent. Das sind keine schlechten Zahlen.
Insgesamt hat die Region OWL viele Frauen in Führungspositionen zu bieten. Das betrifft zum einen Unternehmerinnen. Zum Beispiel bei Unternehmen, wie der Strate Brauerei, Porta Möbel oder Bertelsmann, spielen Frauen eine große Rolle. Aber auch in unseren Universitäten und Fachhochschulen gibt es viele weibliche Führungskräfte. Wir haben an der Universität Paderborn eine Präsidentin, an der Hochschule OWL eine Kanzlerin, an der Fachhochschule Bielefeld eine Präsidentin, an der Fachhochschule des Mittelstandes eine Rektorin und Geschäftsführerin. Und bei der Evangelischen Kirche haben wir als Präses eine Frau.
Das Hauptthema bleibt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Viele der weiblichen Führungskräfte haben keine Kinder. Wir müssen identifizieren, was man für Familien tun kann, die Kinder haben und in denen beide Partner nach vorne wollen. Wir benötigen Familienmodelle, in denen man sich gemeinschaftlich verabredet, wie neben der Familie Karrieren für beide funktionieren können.